Frau Professor Gierhake, die österreichische Schauspielerin Eva Herzig hat es abgelehnt, sich gegen Corona impfen zu lassen. Die Impfung sei ihr noch zu unerforscht. Darauf setzte der produzierende ORF die Zusammenarbeit mit ihr aus. Dieser Fall zeigt, dass der Druck auf den Einzelnen, sich impfen zu lassen, sehr groß sein kann, auch ohne Impfpflicht.

Aus rechtlicher Sicht ist zu prüfen, ob es einen indirekten Impfzwang gibt. Es ist zu fragen, ob die Impfentscheidung auch dann noch als freiwillig zu bezeichnen ist, wenn an die Ablehnung der Impfung zwar keine staatlichen Zwangsmittel, aber sonstige gewichtige gesellschaftliche oder rechtliche Nachteile geknüpft werden.

Sehen Sie eine solche Entwicklung?

Ein europäischer digitaler Impfnachweis scheint schon bald zu kommen, übrigens entgegen der eindeutigen Empfehlung der WHO. Die Daten werden unter Umständen zentral gespeichert und sind leicht über einen QR-Code auf dem Handy abrufbar.

Und wenn ich kein Handy habe?

Dann müssen Sie den QR-Code unter Umständen auf einem Zettel vorweisen.

Was bedeutet ein europäischer Impfausweis konkret?

Der Nachweis könnte als „Eintrittskarte“ für alle gesellschaftlichen, religiösen, sportlichen oder kulturellen Ereignisse gelten. Ein Impfnachweis würde den Besuch von Innenstädten oder Einkaufszentren, von Gottesdiensten, Theatern, Volksfesten, Restaurants, Kinos und Ähnlichem ermöglichen. Auch der Zugang zu Präsenzveranstaltungen an Universitäten oder Fachhochschulen, Bildungs- oder Sprachangeboten stünde Geimpften dann vermutlich wieder offen. Dasselbe könnte für Reisen gelten: Sowohl berufliche Auslandsreisen als auch private Bildungs- oder Sprachreisen, sowohl die Skiferien mit der Familie als auch der Aufenthalt am Meer wären wieder möglich, und zwar innerhalb und außerhalb der EU. Diese durch einen Impfnachweis bedingte Wiedererlangung grundgesetzlich garantierter Freiheiten bedeutete allerdings für Ungeimpfte, dass sie vom gesellschaftlichen, kulturellen, beruflichen, sportlichen und internationalen Leben auch weiterhin weitgehend ausgeschlossen würden. Anders als im Mittelalter, wo Erkrankte an abgelegenen Orten isoliert wurden, würden ungeimpfte Gesunde mitten in der Gesellschaft faktisch ausgeschlossen. Für viele wäre die einzige Alternative zur Impfung ein totaler Rückzug ins Private. Es hinge dann von der individuellen Lebenssituation ab, ob das überhaupt möglich ist. Von echter „Freiwilligkeit“ könnte dann jedenfalls nicht mehr gesprochen werden.

Welche Grundrechte der Nicht-Geimpften würden damit verletzt?

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, die körperliche Unversehrtheit jedes Einzelnen zu schützen. Das umfasst auch das Verbot der Zuführung von Substanzen gegen den Willen des Rechtsträgers. Neben dieser körperlichen Unversehrtheit ist auch die Selbstbestimmung im Grundgesetz garantiert. Vom Bundesverfassungsgericht ist anerkannt, dass dies nicht nur im Rahmen von Abwehrrechten gegen direkte Eingriffe des Staates gilt. Darüber hinaus hat der Staat auch eine Schutzpflicht, wenn diese Grundrechte durch Dritte bedroht werden.

Nun könnte der Staat aber sagen, das Interesse der Allgemeinheit steht über den Rechten des Einzelnen.

Es gibt sehr hohe Anforderungen, die erfüllt sein müssen, damit der Staat die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung einschränken darf.

Sie haben Kriterien herausgearbeitet, die erfüllt sein müssen, damit der Staat eine Impfpflicht verhängen kann. Diese könnte man analog heranziehen: Wenn sie nicht erfüllt sind, muss der Staat auch einen indirekten Impfzwang unterbinden – richtig?

So deutlich hat das bisher noch niemand formuliert, aber: Ja, ich stimme dem zu. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass es gegen die durch den Impfausweis entstehende Diskriminierung keinen effektiven Rechtsschutz gibt. Personen, die das für sie subjektiv unüberschaubare Risiko einer bedingt zugelassenen und neuartigen Impftechnologie auf genetischer Basis ablehnen oder die die Notwendigkeit einer Impfung gegen das Coronavirus im Hinblick auf ihre persönliche Risikobewertung ganz grundsätzlich verneinen, haben keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen den indirekten Impfzwang. Anders als bei der staatlichen Impfpflicht liefe das mit ihren Grundrechten einhergehende Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe ins Leere.

Für eine staatliche Impfpflicht muss nach Ihrer rechtlichen Analyse die Notwendigkeit der flächendeckenden Impfung bestehen. Was ist damit gemeint, und besteht die Notwendigkeit?

Es muss eine Bedrohungslage vorhanden sein, die die Inpflichtnahme der gesamten Bevölkerung gestattet. Das ist zumindest dann zweifelhaft, wenn die durch das Virus hauptsächlich gefährdeten Personengruppen, wie alte und vorerkrankte Menschen, anderweitig geschützt werden können. Laut RKI ist dies bei einem Großteil dieser Gruppe der Fall, weil er sich impfen lassen kann.

Soweit von einigen Stimmen das Erreichen einer sogenannten Herdenimmunität gefordert wird, so wird dagegen vorgetragen, dass eine solche Immunität im Falle eines saisonalen Virus, das ständigen Mutationen unterliegt, und einer Bevölkerung, die nicht auf einer einsamen Insel, sondern mitten in Europa lebt, nicht realistisch ist. Wenn es aber keine Herdenimmunität durch Impfungen geben kann, besteht auch keine Notwendigkeit des flächendeckenden Impfens.

Soweit ich das beurteilen kann, besteht also die Notwendigkeit zur Impfung der gesamten Bevölkerung nicht. Der Begriff der „Notwendigkeit“ darf im Übrigen nicht politisch definiert werden. Er muss naturwissenschaftlich, medizinisch und eindeutig sein. Nur dann ist aus meiner Sicht die erste Voraussetzung einer staatlichen Impfpflicht erfüllt.

Sie stellen bestimmte Anforderungen an die Impfstoffe, die erfüllt sein müssen, um eine Impfpflicht zu begründen.

Die Impfstoffe müssten effektiv Infektionen verhindern und damit auch die Weitergabe des Virus an andere, weil der reine Selbstschutz keine Impfpflicht begründen kann. Bei den aktuell verwendeten Impfstoffen wissen wir das nicht. Wir kennen vielmehr Fälle von Ansteckungen durch Geimpfte.

Wir wissen auch nicht, ob die Impfung gegen Mutanten hilft.

Wenn man einen Impfstoff hat, bei dem man nicht weiß, ob er auch gegen die Mutanten wirkt, kann man damit keine verpflichtende Impfung begründen.

Sie sagen weiter, dass die Impfstoffe nicht nur ein paar Monate lang wirken dürfen.

Die Impfstoffe müssten idealerweise ein Leben lang Schutz vor Infektionen beziehungsweise vor der Weitergabe des Virus bieten. Sonst müsste sich die Bevölkerung jedes Jahr verpflichtend neu impfen lassen. Man bräuchte dazu jedenfalls ein förmliches Gesetz, das neben der Impfpflicht selbst auch die Auffrischungen über Jahre vorschreibt. Solch ein Gesetz hat es bisher noch nicht gegeben.

Ein wichtiger Faktor für die Impfpflicht, aber auch für den indirekten Impfzwang sind die Nebenwirkungen. Sie bereiten vielen Leuten Sorge, wie ja auch der Fall der Schauspielerin Herzig zeigt.

Die Anforderung an Impfstoffe, die flächendeckend eingesetzt werden sollen, lautet: Sie dürfen keine oder nur geringe Nebenwirkungen haben. Dies müsste nicht nur für die unmittelbare Verträglichkeit in den ersten Wochen nach der Impfung, sondern auch im Hinblick auf Langzeitfolgen erwiesen sein. Ich habe mir die Mühe gemacht und die sehr unübersichtliche Website der Europäischen Arzneimittelagentur EMA analysiert. Dort sind pro Impfstoff alle gemeldeten Nebenwirkungen und Impfschäden einsehbar. Die Nebenwirkungen reichen von relativ häufigen leichten Beschwerden wie Fieber oder Kopfschmerzen über weniger häufigere, aber durchaus bedrohliche Herzmuskelentzündungen, Blutgerinnungsstörungen und Lähmungserscheinungen bis hin zu seltenen, aber nicht nur vereinzelt auftretenden Herzinfarkten, Thrombosen und in einzelnen Fällen sogar Erblindung oder Tod. Da ich keine Medizinerin bin und auch die Interpretation von Zahlen lieber Fachleuten überlasse, kann ich diese Daten nicht auf die jeweilige Kausalität zur Impfung überprüfen oder valide darüber urteilen, ob es sich dabei um eine – gemessen an den herkömmlichen Impfstoffen – außergewöhnlich hohe Anzahl von schwerwiegenden Folgen handelt. Dass es aber „keine“ oder „nur geringe“ Nebenwirkungen gäbe, lässt sich vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht sagen. Langzeitstudien haben wir bekanntermaßen gar keine, weshalb hier keine Aussagen getroffen werden können. Wir müssen viel bessere Daten bekommen, sie müssen valide ermittelt und von Fachleuten eingeordnet werden. Das ist vor allem im Hinblick auf junge Menschen wichtig: Bei älteren Menschen ist die Risikoabwägung eine andere als bei jüngeren. Bei Kindern etwa haben wir so gut wie keine Daten. Die Stiko hat sich deswegen ja auch gegen eine Impfempfehlung für Kinder entschieden.

Außerdem weiß man nicht, ob wirklich alle Fälle gemeldet werden.

Das Monitoring ist aus meiner Sicht nicht hinreichend organisiert. Eine ordentliche staatliche Kontrolle würde bedeuten, dass die impfenden Ärzte die Geimpften nach einer bestimmten Zeit fragen, ob und welche Beschwerden sie haben. In den Impfzentren hat es nach der Impfung meines Wissens keine Betreuung gegeben. Zu Beginn der Impfkampagne hat das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zwar unter anderem eine App entwickelt und diese zur Registrierung von Nebenwirkungen und Impffolgen angeboten. Aber wer von den über 80-jährigen Geimpften konnte diese App schon bedienen? Selbst Jüngere hatten ihre Schwierigkeiten damit. Das PEI, das die Fälle eigentlich dokumentieren soll, konnte so natürlich nur von einem Teil der Verdachtsfälle Kenntnis nehmen. Der Staat ist seinen Pflichten hier aus meiner Sicht nicht nachgekommen.

Welche Rolle spielt die Aufklärung vor der Corona-Impfung?

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Ich bin mit meinen Eltern in ein Impfzentrum gegangen. Wir wurden in einen Vorraum gebracht, wo ich dachte, dass jetzt die Aufklärung kommen würde. Doch es geschah nichts. Als ich unser Gegenüber darauf ansprach, sagte der zu mir: „Wenn Ihre Eltern nicht geimpft werden wollten, dann wären sie ja nicht hier.“ Bei den Hausärzten ist die Aufklärung vermutlich besser.

Gibt es auch rechtliche Konsequenzen, wenn nicht aufgeklärt wird?

Ja, und das Ärzteblatt weist auch regelmäßig darauf hin. Es ist so, dass bei Impfungen Umfang und Intensität der Aufklärungspflicht sehr hoch sind, weil der Patient nicht in einer Notsituation, ja nicht einmal krank ist. Bei einer dringenden Operation, wo es unmittelbar um Leben oder Tod geht, ist die Aufklärungspflicht viel weniger umfangreich. Die Rechtsfolgen einer wegen unzureichender Aufklärung unwirksamen Einwilligung sind sowohl strafrechtlicher als auch haftungsrechtlicher Natur.

Wie sollte die Diskussion über die Impfung laufen?

Wir brauchen einen sachlichen, offenen Diskurs. Immanuel Kant hat gesagt, nur die Freiheit der Feder – damals hat man noch mit einer Feder geschrieben – führt zur öffentlichen Vernunft. Wir müssen nicht nur in der Bildung die Kritikfähigkeit und das eigene Denken stärken. Das Ziel muss es sein, die Mündigkeit der Bürger aktiv zu fördern. Junge wie alte Menschen müssen sich klarmachen, dass es um die Integrität ihres Körpers und um ihre Freiheit geht und nicht einfach um einen Piks als Ticket in die Normalität.

Das Gespräch führte Michael Maier.

Prof. Dr. Katrin Gierhake ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Regensburg. Ihre Habilitationsschrift hat sie zu Thema verfasst: „Das Verhältnis von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Rechtsstaat – Grundlagen und Kriterien legitimer Terrorismusprävention in Abgrenzung zu einem freiheitsgesetzlich begründeten Strafrecht“.