Von Leonardo Sinigaglia, l’antidiplomatico
Angesichts der jüngsten Ereignisse in Syrien könnte Europa am Rande einer neuen Drogenkatastrophe stehen: Das Auftauchen von Captagon, einer tödlichen synthetischen Droge, droht den Kontinent in eine Chaos-Zone zu verwandeln – möglicherweise zusätzlich zu der durch Fentanyl verursachten Krise, die bereits aus den USA herüberschwappt.
Captagon wurde 1961 in Deutschland erstmals synthetisiert und basiert auf Methamphetamin. Die Droge wird auch als «Kokain der Armen» oder «Dschihadistendroge» bezeichnet, da sie vor allem im Nahen Osten durch Terror-Milizen verbreitet wurde. Diese kontrollierten nicht nur den Handel und die Produktion, sondern nutzten die Droge auch selbst aufgrund ihrer Eigenschaften. Sie steigert die Schmerztoleranz und Ausdauer, unterdrückt Angst und moralische Skrupel. In den letzten zehn Jahren machten ISIS-Milizen die Substanz bekannt, indem sie sie vor ihren Angriffen und Massakern konsumierten. Unter ihrem Einfluss konnten sie selbst schwer verletzt bis zum Tod kämpfen oder ganze Dörfer auslöschen und Gefangene ohne zu zögern massakrieren.
Der Einsatz von Amphetaminen und Methamphetaminen im Krieg ist keine neue Erscheinung. Im Zweiten Weltkrieg wurden sowohl den Alliierten als auch den deutschen Truppen Substanzen wie das berühmte Pervitin verabreicht, um Schlaf, Müdigkeit und Angst zu bekämpfen. Was die heutige Situation jedoch davon unterscheidet, ist die Rolle nichtstaatlicher Akteure, die sowohl von den Einnahmen aus dem Verkauf profitieren als auch die Substanz für terroristische Angriffe einsetzen. Bereits 2015, bei den Anschlägen auf den Bataclan-Club in Paris, sollen die Attentäter unter dem Einfluss von Captagon gestanden haben.
Bis vor einigen Jahren wurde Captagon hauptsächlich mit ISIS und seinen Verbrechen in Verbindung gebracht. Doch in letzter Zeit hat sich, nicht zuletzt durch die westlichen Medien und die Biden-Regierung, das Narrativ durchgesetzt, dass der ehemalige syrische Präsident Baschar al-Assad einen «Narko-Staat» führe, der durch die Produktion und Verbreitung dieser Droge finanziert werde. Diese Darstellung ist mittlerweile dominierend und überschattet andere Aspekte des Captagon-Handels, selbst nach der Machtübernahme terroristischer Milizen in Syrien. Demnach habe Assad die Produktion dieser schrecklichen Droge gefördert, während die «pragmatischen Rebellen» unter al-Julani angeblich entschlossen seien, deren Verbreitung zu beenden.
Eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung dieses Narrativs spielte Großbritannien,insbesondere durch Erklärungen des Foreign, Commonwealth & Development Office (FCDO) und die BBC, die im Sommer 2023 die vielbeachtete Dokumentation «Captagon: Inside Syria’s Drug Trafficking Empire» veröffentlichte. Die Quellen, wenn überhaupt benannt, wirken oft parteiisch und widersprüchlich. Das FCDO behauptete, 80 Prozent des Captagons würden von kriminellen Organisationen in Syrien unter der Kontrolle der Assad-Regierung hergestellt, konnte jedoch keine Beweise dafür vorlegen.
Die Dimensionen der Captagon-Produktion in Syrien wurden stark übertrieben.Laut der Financial Times wird der Wert der syrischen Captagon-Industrie auf 57 Milliarden US-Dollar geschätzt – eine Summe, die 12 Milliarden Dollar über dem gesamten BIP Jordaniens im Jahr 2023 liegt! Andere Analysten erhöhten diese Schätzung sogar auf 110 Milliarden Dollar, was mehr als das Dreifache des syrischen BIP 2023 ausmacht.
Trotz westlicher Propaganda ist die Produktion von Captagon in Syrien beträchtlich und wird auf über 500 Millionen Tabletten pro Jahr geschätzt. Der Schmuggel wurde zweifellos durch korrupte Elemente innerhalb der syrischen Sicherheitskräfte ermöglicht. Diese Korruption hat sich in den letzten Jahren wahrscheinlich aufgrund der wirtschaftlichen Krise verschärft, die durch den Caesar Act von Donald Trump (2019) und den Anti-Normalization Act von Joe Biden (2024) ausgelöst wurde – brutale Sanktionspakete, die die Bevölkerung eines Landes treffen, das seit einem Jahrzehnt von einem Bürgerkrieg heimgesucht wird.
Ein wichtiges Zentrum der Captagon-Produktion befindet sich in Douma, nahe Damaskus, das nun fest in den Händen von al-Julanis Kräften ist. Dank der Landverbindung zur Türkei kann die Droge nun problemlos Europa erreichen, ohne Häfen passieren zu müssen. Captagon wird geschickt in Container mit Früchten, humanitären Hilfsgütern oder anderen legalen Lieferungen versteckt, was es nahezu unmöglich macht, den Schmuggel zu stoppen.
Die Rolle der Türkei wird entscheidend sein, um den Zustrom von Captagon von Syrien nach Europa einzudämmen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die politischen Autoritäten des Kontinents in der Lage sind, konstruktive Beziehungen zu Ankara aufzubauen.
Europa wurde bereits 2015 durch den syrischen Konflikt schwer getroffen, als eine erste Welle von Massenmigration den Kontinent erreichte. Mit Millionen von Flüchtlingen kamen auch soziale und wirtschaftliche Herausforderungen. Zehn Jahre später, im Jahr 2025, scheint eine neue Krise aus Syrien nach Europa zu gelangen: ein massiver Zustrom von Captagon.
Obwohl al-Julani und die neuen syrischen Machthaber Bilder von angeblichen «Zerstörungen von Captagon-Lieferungen» veröffentlicht haben, deuten ihre politischen Manöver auf etwas anderes hin. Captagon war nicht nur eine zentrale Einnahmequelle für terroristische Banden, sondern auch für Akteure, die einst unter Assads Regime agierten und sich nun den neuen Machthabern angeschlossen haben.
Zu nennen ist unter anderem Imad Abu Zreik, der Anführer einer «privaten» Miliz, die mit den Regierungstruppen in der Region Daraa kollaborierte und vor kurzem auf die Seite der neuen Machthaber des Landes wechselte. Er gilt als eine zentrale Figur im Schmuggel von Captagon nach Südsyrien und wurde dafür sogar von den Vereinigten Staaten sanktioniert. Im Dezember 2024 nahm er an einem Treffen teil, das von al-Julani organisiert wurde, um die Rebellion zu koordinieren.
Wenn es in Assads Reihen Figuren gab, die den Bürgerkrieg nutzten, um ein Drogenimperium aufzubauen, so ist ebenso klar, dass viele von ihnen nun unter der «Rebellenflagge» weiter operieren – und die Produktion von Captagon ungebrochen floriert.